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EU-Ratsgipfel: Kuhhändel und Geopolitik

Wie sich die politischen Akteure und Kommentatoren weder einmal in ihrer moralischen Attitüde überschlagen! Zwei Gipfel, zwei Aufreger. Im Falle des COP waren es die bösen Ölstaaten, die es doch glatt wagten, sich – ja, natürlich aus Eigeninteresse – dem fossilen Eilausstieg Europas zu widersetzen. Die zunächst verfasste Abschlusserklärung: Eine Klatsche für die realitätsvergessenen Hauruck-Klimaretter. Große Empörung, oh nein, so geht das nicht, wir protestieren, dann Umformulierung, schließlich ein angeblicher Erfolg. Man habe wichtige Ziele erreicht.

Das übliche Spielchen: Jeder Gipfelvertreter stellt sich danach hin und verkauft sein Engagement als Erfolg. Nur kann niemand sagen, worin konkret der Erfolg dieser Mammutkonferenz in Dubai mit 190 Teilnehmerstaaten denn konkret bestehen soll. Tatsächlich: Außer Spesen – und jeder Menge vermeidbarer zusätzlicher Emissionen, uuups – nichts gewesen.

Doch lassen Sie mich Ihnen heute einmal anhand eines ganz anderen Gipfels, nämlich des EU-Ratstreffens dieser Woche, einige Hintergründe typischer EU-Abläufe erläutern. Um das zu verstehen, ist es wichtig, hinter die Schlagzeilen zu schauen. Das Ganze ist ein durchaus spannendes Schauspiel. 

„DRAMA-POTENZIAL“

Die Herausforderung beim aktuellen EU-Gipfel war: Die maßgeblichen Akteure der EU-Staaten sowie natürlich Kommissionspräsidentin von der Leyen wollten unbedingt als Ergebnis eine Aufnahme der Beitrittsgespräche mit der Ukraine! Genauer: alle bis auf einen. Als schicksalhaft wurde das gehandelt. Bei einer derart konkret und dringlich formulierten Erwartung wäre das Verpassen dieses Ziels nicht mehr als Erfolg verkaufbar. 

Die „tagesschau“ sprach von „Drama-Potential“, und die Ukraine warnte vor verheerenden Folgen im Falle eines Scheiterns. Sie brauchen das Ja zu Beitrittsverhandlungen als Motivationsschub für die Soldaten an der Front und natürlich auch für die Bevölkerung. Außerdem als Signal an alle Seiten, natürlich auch in Richtung Moskau, dass die EU nicht gedenkt, die Ukraine fallen zu lassen. Nun, Putin ist ein Aggressor, aber er ist nicht dumm. Ob diese Demonstration von Solidarität ihn also wirklich beeindruckt? Zumal er andererseits ja sieht, dass zwar Geschlossenheit sehr demonstrativ plakatiert wird, die echte Unterstützung etlicher Staaten jedoch schon eine ganze Weile bröckelt. Außerdem weiß auch er, dass Beitrittsgespräche lange noch kein Beitritt sind. Dessen ungeachtet wird das Signal von der EU als extrem wichtig eingestuft. 

Die Ausgangslage: 26 Staaten waren vor Gipfelbeginn im Boot, nicht wenige trotz manch zurückgestellter Bedenken, Staat 27, Ungarn, verweigerte jedoch sein Ja. Ein solcher Beschluss braucht aber Einstimmigkeit, so sind die klaren Statuten. Bis zuletzt hat man Orban deshalb auf verschiedene Weise auf Linie der großen Mehrheit zu bringen versucht. Das volle Programm, von üblen Beschimpfungen als Erpresser bis zur sich jedenfalls aufdrängenden, wenn auch nicht kausal belegbaren Vermutung kostspieliger finanzieller Zusagen im Falle einer Zustimmung waren im Gepäck. 

UNWÜRDIGES GESCHACHER? ACH WAS, GIPFELREALITÄT. 

Da kann der ehemalige grüne Pazifist und heutige selbsternannte Kriegswaffenspezialist Hofreiter-Toni im deutschen Fernsehen noch so sehr über Orban schimpfen, ihn als korrupten Kriminellen bezeichnen, behaupten, dass wir ihn nicht brauchen. Und da kann Belgiens Regierungschef Alexander de Croo noch so sehr wettern, das sei hier kein ungarischer Basar. Als Realist sage ich Ihnen: Doch, ob es den Betroffenen nun gefällt oder nicht, es braucht natürlich Orban als Vertreter Ungarns für alle Entscheidungen, bei denen Einstimmigkeit ein Muss ist. Und Ratsgipfel haben im Grunde, jeder auch nur halbwegs Kundige der Materie weiß das, stets den Charakter eines Basars. 

Das war auch diesmal so. Hätte Orban darauf bestanden, mit abzustimmen, hätte er das selbstredend gekonnt. Im „ungarischen Basar“ war aber offenbar bereits zuvor verhandelt worden, dass er zum Zeitpunkt der Abstimmung den Raum verlässt, um den anderen ein einstimmiges Ergebnis zu ermöglichen. Offiziell wird nun von allen Seiten abgestritten, dass hier ein Zusammenhang mit der plötzlichen Freigabe bislang eingefrorener Milliarden an Ungarn zwei Tage vor Beginn des Gipfels besteht. Bilden Sie sich, liebe Leser, ihr eigenes Urteil, für wie überzeugend Sie das Bestreiten dieses Zusammenhangs halten. Letztlich verweigerte Orban gesichtswahrend seine Zustimmung, ermöglichte aber zugleich durch das Verlassen des Raumes exakt zum Zeitpunkt der Abstimmung –sicher auch das ein reiner Zufall, womöglich ein unaufschiebbares menschliches Bedürfnis –, dass die anderen 26 einstimmig die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, übrigens auch mit der Republik Moldau, beschließen konnten. 

Legt man das ganze nur blendende moralische Lametta einmal beiseite, sind die Motive auf Ratsgipfeln im Grunde so einfach wie auch dem Geschehen auf einem Basar tatsächlich sehr vergleichbar: Kein Staat ist Mitglied der EU, ohne sich eigene Vorteile davon zu versprechen. Und Sie können davon ausgehen, dass all jene, die da beteiligt sind, dies tun, weil die Bilanz in Summe nach ihrem jeweiligen Verständnis zu ihrem Vorteil ist. Du willst was von mir? Was krieg ich dafür? Alles eine Frage des Aushandelns. 

Victor Orban ist bekannt dafür, vor EU-Gipfeln gerne auszuscheren und dies auch an die große Glocke zu hängen. Da die EU stets darauf bedacht ist, ein möglichst einiges Bild nach außen abzugeben, verschafft er sich so besonderes Gehör und erhebliche Verhandlungsspielräume. Die Verantwortlichen der EU dagegen haben vor Entscheidungsgipfeln nur ein Interesse: Alle Mitgliedsstaaten einigen, sowohl auf ein Abstimmungsergebnis als auch auf eine gemeinsame Argumentationslinie. So viel wie möglich soll bereits vor einem Treffen abgesichert sein. Gegenpositionen werden möglichst ebenfalls im Vorfeld abgeräumt, selten durch Überzeugung, sondern eben in aller Regel durch Aushandlung. 

DEMONSTRIERTE EINIGKEIT PRO UKRAINE-BEITRITTSVERHANDLUNG 

Es ist übrigens im Falle der Aufnahme der Ukraine-Beitrittsverhandlungen keineswegs so, dass Orban mit seinen Auffassungen so allein dasteht, wie das hierzulande üblicherweise medial dargestellt wird. In der Abwägung kommen die anderen Staaten allerdings zum Schluss, dass die Vorteile einer Pro-Ukraine-Entscheidung schwerer wiegen als die Nachteile. Und EU-Gemeinschaftsbeschlüsse zeichnen sich dann dadurch aus, dass man eben diese Einigkeit betont und Gegenargumente möglichst nicht selbst kommuniziert.

Der Transparenz halber will ich Ihnen die Gegenargumente aber hier kurz darstellen, zumal sie teilweise auch für andere Beitrittskandidaten zutreffen. 

  1. Die Ukraine würde enorme EU-Mittel benötigen. Entweder die Mitgliedsbeiträge der EU stiegen also im Fall der Aufnahme sehr wesentlich oder Finanzströme müssten zu Lasten anderer Mitgliedsländer in die Ukraine umgelenkt werden. 2. Eine Beitrittsaussicht aus außenpolitischen Gründen, kriegsbedingt, quasi ins Schaufenster zu stellen, könnte langfristig ähnlich unangenehme Spätfolgen wie im Falle der Türkei haben, wenn man die Hoffnung dann enttäuscht. 3. Den Beitrittsprozess bei gerade kriegerisch umkämpften Landesgrenzen bereits zu beginnen, widerspräche den Regeln und brächte etliche Probleme mit sich, für die keine Vorkehrungen existieren. 4. Die Ukraine hat zwar ein paar Bedingungen erfüllt, die zu erfüllen waren, aber bei weitem nicht alle. Die Erfüllung aller Bedingungen ist aber Voraussetzung dafür, dass der konkrete Prozess beginnen kann. 

SORGE VOR AUSUFERNDEN KOSTEN 

Klar ist: Ein EU-Beitritt der Ukraine wird eine extrem teure Angelegenheit. Bis zu 17 Prozent des EU-Haushalts von dann mindestens 28 Mitgliedstaaten würden allein in die Ukraine fließen. Details dazu wären ein ganz eigenes Thema. Hier dazu nur so viel: Eine umfassende EU-Reform wäre zwingend, um das bewältigen zu können. Die wird sich aber nicht durchsetzen lassen, da eine solche Reform zwangsläufig Bestandsmitgliedern massiv bisherige Pfründe streitig machen müsste. 

Die EU ist in ihrer derzeitigen Ausgestaltung hochattraktiv für strukturell schwache Länder mit niedrigem Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt und hohem Agraranteil (was beides auf die Ukrainer in besonderem Maße zutrifft). Die Gründe sind klar, und man kann sie auch niemandem verdenken. Zwar müssen sich diese Staaten den Regeln der EU unterordnen, aber im Gegenzug profitieren sie finanziell erheblich, denn sie werden vom ersten Tag der Mitgliedschaft an zu Nettoempfängern aus dem EU-Haushalt. 

Hier liegt übrigens auch einer der zentralen Gründe, warum das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip bei den meisten wichtigen Entscheidungen so elementar wichtig ist (und warum umverteilungseuphorische Sozialisten, Linke und Grüne es unbedingt abschaffen wollen): Wenn das kippt, kann die Mehrheit der Netto-Empfängerländer befreit von der Einstimmigkeit entscheiden, wieviel die Geberländer zu zahlen haben. Die EU würde dann noch mehr, als sie es sowieso bereits längst geworden ist, zu einer reinen Transferunion. 

DIE `EU-DENKE´ ERWEITERUNG ZUR POLITISCHEN UNION 

Sie werden bemerkt haben, dass ich es ganz bewusst Ihnen überlasse, die Argumente zu bewerten. Mein Anliegen dieser Kolumne war allein, Ihnen einen Einblick in die „Denke“ von EU und EU-Mitgliedern zu ermöglichen, denn die zieht sich durch alle Themen und Entscheidungen der EU. 

Mit Moral und edlen Grundsätzen hat das alles wenig bis gar nichts zu tun. In der Politik geht es um Interessen und deren Durchsetzung. Sich gemeinschaftlich für gemeinsame Interessen zu organisieren ist so lange klug, wie die Bilanz unter dem Strich stimmt. Permanent so zu tun, als ob jegliches politische Handeln hochmoralisch motiviert wäre, ist eine unsinnige – und jedenfalls mich in den permanenten, zumeist geheuchelten Betroffenheitsritualen sogar abstoßende – Unart, auf die die EU, will sie irgendwann einmal wirklich erwachsen werden und zu einem ernstgenommenen Global Player werden, endlich verzichten sollte. 

Es geht bei allen Gipfeln wie auch bei allen parlamentarischen Entscheidungen um Interessen und Realpolitik, um konkrete und handfeste Anliegen der Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten, und damit Punkt. Das Mitgliedsland, das sich dieser Realität übrigens am weitesten verweigert, ist… na raten Sie mal. Ein kleiner Tipp: Dieses Land hat derzeit eine Außenministerin, die feministische Außenpolitik, was immer das sein mag, für einer interessengeleiteten Außenpolitik vorziehenswert hält.

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