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Brüsseler Planungschaos: Renaturierung statt regionaler Versorgung?

Haben Sie schon einmal von der Nick-Kette gehört? Falls Sie geschulter Verkäufer sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß. Falls nicht, haben Sie vielleicht schon einmal als Adressat der Nick-Kette Bekanntschaft damit gemacht. Sei es in einer eleganten Variante in einem seriösen Verkaufsgespräch oder aber in der halbkriminellen Variante durch sogenannte Drückerkolonnen.

DIE MORALFALLE IM VERKAUF

Anhand der plumpen Drückerkolonnenvariante lässt sich das Prinzip gut veranschaulichen: Man stellt Ihnen einige unverbindliche Fragen, die Sie in jedem Fall mit Ja beantworten müssen, wenn Sie nicht als vollkommen empathieloser Menschen- oder Tierhasser oder wahlweise auch als Umweltschwein dastehen wollen. Finden Sie es richtig, dass ausgesetzte Tiere ein neues Zuhause bekommen? Finden Sie es gut, wenn sogar arme Menschen an Tierheime spenden? Dann folgt stets eine Frage, die Sie nun moralisch in die Pflicht nimmt und Ihr Ja als konsequente Fortsetzung Ihrer vorherigen Antworten erzwingen soll. Ja zum Abschluss eines Abos oder Ja zu einer Spende zum Beispiel. Moralische Erpressung ist im Falle der Tür-zu-Tür-Horden oft die vorbereitete Strategie.

DIE MORALFALLE IN DER POLITIK

Nun, auch im politischen Raum spielen Nick-Ketten eine Rolle. Politische Botschaften müssen natürlich auch verkauft werden und eine Konsequenz-Kette kann da hilfreich sein. Das Spiel mit einem vermeintlich moralisch-selbstverständlichen Ja, das doch wohl jeder anständige Mensch aussprechen muss, kennen wir alle. Und zwar seit vielen Jahren. Ja zu vollkommen offenen Grenzen, weil alles andere unmenschlich gegenüber den „Flüchtlingen“ wäre. Ja zu allen sozialen Unterstützungsleistungen, weil alles andere asozial wäre. Ja zu jeder vermeintlich progressiven Gesellschaftsidee, weil alles andere reaktionär und vorgestrig wäre. Und vor allem natürlich ein dickes fettes Ja zu allen Ideen und moralischen Geboten, sobald sie mit der Überschrift „Umwelt- und Naturschutz“ daherkommen. Auf der Strecke bleibt dann oft die entscheidende Frage: Nützt eine vorgeblich umwelt-, natur- oder klimaschützende Maßnahme tatsächlich der Umwelt? Das wird leider oft sträflich vernachlässigt, obwohl effektiver Umweltschutz eine der global allerwichtigsten Aufgaben in einer Welt mit immer Menschen ist.

Was, wenn die von wohlklingenden grünen Überschriften geleitete Politik sozusagen ihre eigenen Kinder bekämpft, weil die grünen Ansätze sich, theoretisierend und abgehoben statt pragmatisch und realitätsüberprüft, gegenseitig widersprechen? Ein seit Wochen schwelender Streit innerhalb der EU taugt da hervorragend als Anschauung.

RENATURIERUNG ODER NAHRUNGSMITTELSICHERHEIT?

Ja zu Obst und Gemüse vom Bauern nebenan! Ja zu regionalem Anbau! Aus dem Ausland importierte Landwirtschaftsprodukte sind böse, heimische Produkte sind gut. Stimmt doch, oder? Und das ist sogar als Leitlinie, nicht als moralischer Zwang, also ohne den Gut-böse-Quatsch, tatsächlich sinnvoll. Es kann allerdings sein, dass der „moralisch korrekte“ Verbraucher bald umdenken muss. Das passiert, wenn man eher ideologisch plant als pragmatisch und realitätsnah.

Die Entscheidung steht noch nicht, das kann auch noch kippen, aber die EU-Kommission will ein „Renaturierungsgesetz“ durchsetzen, nach dem mindestens 20 Prozent der geschädigten Land- und Wasserflächen der EU saniert werden sollen. Dazu gehört, dass 10 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen in einen naturnahen Zustand versetzt werden sollen. Welch ein realitätsvergessener Schreibtischtäter-Plan!

Vertreter der Landwirtschaft sehen das – mit Recht! – als Attacke von Brüsseler Bürokraten auf ihre Existenzgrundlage, weisen darauf hin, dass das dann eben auch 10 Prozent weniger Nahrung aus regionalem Anbau bedeutet. Diese Waren müssten dann zugekauft werden, um den Lebensmittelbedarf zu decken – mit all den Nachteilen für die Umwelt und für die Qualität. Renaturierung oder Nahrungssicherheit? Renaturierung oder regionale Produkte? Na, was sagt da der Moralkompass?

ZWISCHEN LOYALITÄTS- UND PROFILIERUNGSDRUCK

Auch Manfred Weber, CSU-Mitglied und Europaabgeordneter, sieht das Gesetz äußerst kritisch. Er sieht gar durch das Gesetz „die Nahrungsmittelversorgung in Europa und auf der Welt gefährdet“. Selbstverständlich lege er großen Wert auf Biodiversität – ja Herr Weber, Ihr grüner Moraldisclaimer wird zur Kenntnis genommen – aber ein so schlecht gemachtes Gesetz könne das doch nicht leisten.

Eine weitere moralische Herausforderung treibt Weber um. Im FAZ-Interview schlingerte Weber munter hin und her zwischen offizieller Anerkennung für Ursula von der Leyen, die nämlich hat als Kommissionspräsidentin und Mitglied der Schwesterpartei CDU den Gesetzesvorschlag mitverantwortet, und Entsetzen über das Gesetz, weil es die Nahrungsmittelversorgung in Europa und auf der Welt gefährde. Diese Verrenkungen haben einen gewissen Unterhaltungswert. Sein Trick, um sich da herauszuwinden: Er versucht die Verantwortung für das schlecht gemachte Gesetz weg von Frau von der Leyen und hin zu ihrem Stellvertreter Frans Timmermanns zu schieben. Ursula von der Leyen soll allerdings, wenn es nach ihm geht, das Gesetz zurückziehen, da die bisherigen Mehrheiten äußerst dünn waren. Im Umweltausschuss lehnt die Hälfte der Abgeordneten den bisherigen Vorschlag ab, im Rat gibt es eine knappe Unterstützung.

Wie schlecht das alles ist, fällt Weber und seinen Mitstreitern, übrigens reichlich spät ein. Aber besser spät als nie. Lange Zeit war das gar kein Thema, aber nun ist seit kurzer Zeit, da schau her, rasche Profilierung als bürgernahe Volkspartei gefragt. Dafür werden nun auch neue Bündnisse mit einigen bislang eher gemiedenen vermeintlich bösen Rechten eingegangen, wie der italienischen Regierungschefin Meloni. Das ist, die inhaltliche Politik anbelangend, eine erfreuliche Entwicklung, weg von grüner ökosozialistischer Bevormundung, hin zu Realitätssinn und Pragmatismus, der bislang noch nahezu immer unter die ideologischen Räder geriet. Ob das auch nach den wichtigen bevorstehenden Wahlen Bestand hat, wird nicht zuletzt von deren Ausgang und den neuen Mehrheitsverhältnissen abhängen. Wie heißt es so martialisch: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

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