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Europa muss auch militärisch zusammenstehen. Mit mehr Einsatz, aber immer mit Augenmaß.

Z e i t e n w e n d e – seit der Sondersitzung des Bundestages drei Tage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine gehört dieser Begriff lagerübergreifend zum festen Sprachmobiliar von Politikern und Journalisten. Mal wird es direkt wörtlich ausgesprochen, mal schwingt es anders formuliert mit. Und ja, es stimmt so auch, wir erleben gerade eine Zeit eines historischen Wandels, den man mit Recht als eine Zeitenwende bezeichnen kann.

In solchen Zeiten, die immer auch eine emotionale Herausforderung für die Menschen sind, die mit vielen Nöten, Sorgen und Ängsten einhergeht, ist in der Politik noch mehr als ohnehin ein Entscheiden und Handeln nach klaren Kriterien der Vernunft und des nüchternen Realismus gefordert. Stark moralisierende und die Menschen zusätzlich emotionalisierende Botschaften, Forderungen und Politikentwürfe mögen aus Empathie völlig verständlich und nachvollziehbar, vielleicht sogar sympathisch erscheinen. Ein guter Berater für konkret zu treffende politische Entscheidungen sind sie in bewegten Zeiten jedoch in der Regel nicht. Das gilt auch, nur darum soll es in meinen heutigen Samstagsgedanken gehen, für Fragen der nationalen Verteidigungspolitik unseres Landes.

Aufgeschreckt durch die schrecklichen Kriegsereignisse in der Ukraine mit all den unendlich traurigen Opfern, die ein solcher Krieg immer mit sich bringt, sind wir Deutschen und ist auch die deutsche politische Landschaft um eine lange gepflegte Hoffnung und Illusion ärmer. Jene nämlich, dass derlei in Europa nach den grausamen zwei Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts künftig überwunden und gar nicht mehr möglich sei. Doch so traurig es ist, das ist auch hier mitten in Europa heute noch möglich, der von Putin begonnene Krieg in der ganzen Ukraine belegt das leider eindrücklich. Damit ist die bisherige Politik einer fast schon systematischen Vernachlässigung der Pflege unserer Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft umfassend auf den Prüfstand gestellt.

Es muss schnell und umfassend neu durchdacht werden, politische Prioritäten müssen neu und anders als bislang gesetzt werden. Das geschieht derzeit ja auch, wie man an der Entscheidung der Bundesregierung ablesen kann, die Bundeswehr quasi per sofort mittels – euphemistisch als „Sondervermögen“ bezeichneter – zusätzlicher Schulden von 100 Mrd. Euro, salopp gesagt, in einen Zustand echter Verteidigungsfähigkeit überhaupt erst wieder versetzen zu wollen. Nur am Rande sei bemerkt, dass dies aber mit Mittelbewilligung allein ganz sicher nicht zu erreichen ist und dass diese notwendige umfassende Reparatur unserer Streitkräfte selbst im günstigsten Fall einer optimalen Umsetzung viele Jahre dauern wird.

Nun gerät, auch vor dem Hintergrund dieser Nöte, ganz aktuell eine zweite, eigentlich alte Idee wieder in die politische Diskussion: Die Idee einer gemeinsamen europäischen Verteidigungsarmee. Nicht erst seit dem jüngsten Angriff auf die Ukraine steht fest: Die Verteidigungsminister der EU-Staaten unterstützen den Aufbau einer europäischen Armee bis 2025.

Interessanterweise spielt ein Motiv eine Rolle, das schon zu Beginn der 50ig-er Jahre im Vordergrund stand, nämlich die Sorge vor einer aggressiven Ausdehnung damals „der Sowjets“, heute entsprechend „der Russen“. Eine Zeitenwende war die Forderung Winstons Churchills nach einer europäischen Armee übrigens damals, 1950, auch, denn er forderte eine westdeutsche Beteiligung an dieser Armee. Die Idee einer Wiederbewaffnung der gerade besiegten kriegerischen Deutschen – das war ein echter Kurswechsel. Tatsächlich wäre diese Armee beinahe gegründet worden. Es scheiterte letztlich daran, dass die Franzosen, bei denen sich inzwischen die Regierung geändert hatte, 1954 ihre Beteiligung zurückzogen.

Ganz gestorben ist diese Idee jedoch nie, und auch in der heutigen EU ist sie immer wieder ein Thema. Der heutige Stand ist dieser: Es gibt organisierte europäische Zusammenarbeit in Sachen Sicherheitspolitik, ein echtes europäisches Verteidigungsbündnis (analog zur NATO), in dem alle Partner sich verpflichten, sich gegenseitig militärisch zu helfen, gibt es aber ebenso wenig wie eine gemeinsame Armee. Es gibt lediglich Kooperationen und Institutionen, die die Armeen der EU-Staaten organisatorisch verbinden sollen. Und seit 2017 gibt es das von 23 Mitgliedsstaaten unterzeichnete PESCO (Permanent Structured Cooperation). Ziel dessen ist eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Waffenkäufe einschließt und perspektivisch möglicherweise auch eine europäische Armee anstreben könnte.

Und nun? Wird der Ukrainekrieg womöglich zum Startschuss für eine Vergemeinschaftung der europäischen Verteidigungspolitik, wie es viele unserer sogenannten Muster-Europäer – die sowieso am liebsten ja alle Politikbereiche schnellstmöglich vergemeinschaften wollen – allenthalben fordern?

Genau hier ist nüchterne Vernunft statt emotionaler Erwärmung für eine solche Idee gefordert. Eine gemeinsame Verteidigungspolitik der Mitgliedstaaten der EU, für die sich in diesen Tagen allerlei Protagonisten aussprechen, setzt nämlich etwas voraus, was nicht ist und mit Gewissheit auch so bald nicht sein wird: einen gemeinsamen verteidigungspolitischen Willen der Mitgliedstaaten.

Den gab es früher nicht, man denke nur an die völlig unterschiedliche Einstellung Frankreichs und Deutschlands zu militärischem Eingreifen etwa in Libyen zu Zeiten des sogenannten, fulminant gescheiterten, „arabischen Frühlings“. Und den gibt es auch heute im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine nicht. Völlig unübersehbar vertreten die baltischen Staaten und Polen hier eine grundlegend andere Position zu einer militärischen Antwort als die deutsche Regierung.

Und um hier nicht den geringsten Zweifel zu lassen, liebe Leser, ich selbst halte die Erfüllung der Forderung nach einer Flugverbotszone über der Ukraine seitens der NATO für den sicheren Weg in einen großen Krieg in Europa und womöglich darüber hinaus, weswegen ich hier die Position der Bundesregierung, diese Forderung abzulehnen, vollständig teile. Der Gedanke, hier in eine Kollektivposition hineingezogen zu werden, die man als Nation nicht teilt, macht bei so fundamentalen Unterschieden in verteidigungspolitischen Grundpositionen schon deutlich, dass die Idee gemeinsamer EU-Streitkräfte keine ist, die man in der aktuellen Lage ernsthaft als kurzfristige Entscheidung erwägen sollte.

Liebe Leser, sollten Pläne für eine europäische Armee in näherer Zukunft mit dem Ukrainekrieg begründet werden, dann seien Sie gewiss, das ist zwar sicher ein Turbo, aber eher einer für die mediale Öffentlichkeit. Die EU und die Verteidigungsminister der EU-Staaten haben das auch schon vor diesem Krieg gewollt. Die Europaarmee-Pläne fallen in die Kategorie „Die Gelegenheit ist günstig“ und sind kein Produkt der aktuellen Zeitenwende.

Richtig und wichtig ist es, unsere deutschen wie europäischen verteidigungspolitischen Positionen und Interessen entschlossen in das bestehende Verteidigungsbündnis der NATO einzubringen. Dazu gehört dann allerdings auch – dies an die Adresse insbesondere der deutschen Bundesregierung –, sich dazu eine Legitimation durch eigenen verteidigungspolitischen Beitrag zu erarbeiten, an dem es bislang an allen Ecken und Enden mangelte. Möge die Zeitenwende und die damit einhergehenden Erkenntnisprozesse sehr zügig dazu beitragen, dass das nun endlich geschieht.

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