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Bildungskatastophe mit Ansage

 

Ach, war das nicht toll, als unsere Pflegekräfte abendlichen Balkonapplaus als Anerkennung ihrer Leistungen bekamen? Deutschland war gerührt von sich selbst. Dass die kühlen Deutschen in einer Krise so gemeinschaftlich wärmeklatschten, tat das nicht gut?

Nun, den so Bedachten tat es jedenfalls nicht nachhaltig gut. Abgesehen von vielleicht einem kurzen Moment des Lächelns änderte weder diese Anerkennung von Bürgern noch all die Lobhudeleien von Politikern auch nur irgendetwas an ihrer Überforderungssituation, auch nicht an der Personalknappheit. Und auch dem Gesundheitssystem tat es nichts Gutes. Das nämlich blieb, was es war: In Normalzeiten schon am Anschlag und in der Corona-Krise im Dauernotbetrieb. Die Leidtragenden waren und sind neben dem Personal letztlich auch die Patienten in diesem zunehmend maroden Gesundheitsgebäude.
Etwas Ähnliches passiert schon lange an unseren Schulen und mit unseren Kindern. Die Schulen sind im Mangelbetrieb, sie werden nicht ordentlich versorgt. Das ist schon jetzt schlimm und das wird in den nächsten Jahren mit Gewissheit noch schlimmer werden. Die Politik leistet sich seit Jahren auf vielen Gebieten Kurzsichtigkeit und lässt es an vorausschauender Sorge und Planung und auch an Aufmerksamkeit für aktuelle Missstände mangeln. Vorangetrieben wird nur, was kurzfristig Aussicht auf Wählerstimmen bringt. Perspektivisch wichtige Themen bleiben auf der Strecke, und solange man die bereits eingetretenen Missstände noch schönreden und leugnen kann, wird schöngeredet und geleugnet. Geht das nicht mehr, wird betont, man habe das Problem erkannt und werde handeln, aber letztlich passiert nichts oder viel zu wenig.
Ob wohl künftig Eltern klatschend auf den Balkonen stehen und sich damit bei den gestressten Lehrern bedanken, die trotz viel zu voller Klassen, trotz miserabler Ausstattung und trotz teils „herausfordernder“ Klassenzusammensetzung weiter bereit sind, ihren Job auszuüben? Sie finden die Vorstellung absurd? Ja, ist sie auch, denn sich einschleichende Probleme gehen gern unter und hätte uns Corona nicht erwischt, wäre man ja auch weiter über die warnenden Stimmen zur Pflegesituation hinweggegangen. Und hat sich denn überhaupt seither etwas substanziell geändert? Eben.
Genau so läuft es im Grunde seit Jahrzehnten schon bei der schulischen Bildung unserer Kinder. Der Stresstest Corona hat zwar auch da vieles aufgedeckt. Aber wurde das benutzt, um eine Generalrevision vorzunehmen und alles auf den Prüfstand zu stellen? Um dann entschlossen gegenzusteuern? Nein. Unterrichtsausfall in ständig wachsendem Umfang und nicht selten eine auch fachlich unzureichende Versorgung – das ist deutsche Bildungsrealität.
Wer nun aber glaubt, der Höhepunkt der besorgniserregenden Zustände sei bereits erreicht, der irrt! Diejenigen, die die Schulpolitik und die Versorgung der Schulen mit Lehrern planen, müssen lange schon wissen, dass wir in eine Krise hineinrutschen, die nicht nur unseren Kindern, sondern auch unserem Land im Ganzen erheblich schaden wird. Wenn Sie dachten, Sie hätten als Eltern in Sachen Schule eigentlich schon so ziemlich jede Katastrophe erlebt, dann machen Sie sich gefasst auf eine ganz neue Qualität von Unterversorgung. Was kommt auf uns zu? Lassen wir die Schönrechner mal unberücksichtigt und hören einem der Warner zu.
„In vier, fünf Jahren werden wir das große Drama erleben“, das prophezeit der Ökonom Wido Geis-Thöne, der für das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) den zu erwartenden Lehrermangel in Deutschland berechnet hat, im Gespräch mit der FAZ. Wegen unerwartet stark steigender Schülerzahlen ist bereits jetzt ein verschärfter Lehrermangel an Grundschulen spürbar. Laut Geis-Thöne schlägt der dann von 2030 an heftig auch in weiterführenden Schulen durch. Dann dürften umgerechnet auf Vollzeitstellen 59.000 Stellen fehlen, 2035 dann 66.000, womöglich sogar noch viel mehr. Man könne das inzwischen auch nicht mehr durch mehr Lehrerausbildung ausgleichen. Klar, das bräuchte ja auch Zeit.
Quereinsteiger aus anderen Studiengängen sollen nun helfen, das Problem zu entschärfen. Hier gab es sogar bereits vor Jahren – immerhin – in einzelnen Bundesländern entsprechende Weichenstellungen. Das reicht aber nicht. Der WELT gegenüber erklärte Geis-Thöne: „„Wenn wir unser Sozialsystem auch in Zukunft erhalten wollen, werden wir nicht um eine generelle Erhöhung des Rentenalters umhinkommen“, was dann auch für Lehrer gelten würde. Nun, wie viel das angesichts der Tatsache, dass Lehrer nicht selten bereits vor Erreichen des regulären Rentenalters ausscheiden, überhaupt helfen kann, ist fraglich. Und man wird bei diesem Ansatz auch die Frage stellen müssen, ob Lehrpersonal in einem Alter von über 65 Jahren dem erheblichen Stress, mit dem der sehr verantwortungsvolle Beruf des Lehrers im Schulalltag zwangsläufig verbunden ist, überhaupt in größerer Zahl gewachsen sein kann.
Und noch etwas ganz Wichtiges erschwert die Problemlösung: Für unser rohstoffarmes Land, das ist eine Binse, aber eben eine richtige, ist Bildung DIE zentrale Ressource für Wohlstand und Erfolg. Aber wo, in welchen Bereichen sind wir denn vor allem schwach aufgestellt inzwischen? Wir haben dringenden Nachholbedarf in den sogenannten MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Sind Lehrer kurz vor der Pensionierung tatsächlich besonders geeignet für die Unterrichtung von Schülern im Bereich Informatik? Und finden es denn Quereinsteiger aus eben solchen MINT-Bereichen wirklich attraktiv, sich im Schulbetrieb bei einem Gehalt, dass deutlich niedriger ist, als es ihnen die freie Wirtschaft bieten würde, ohne pädagogische Ausbildung mit aufmüpfigen Schülern herumzuplagen? Nicht nur Schulen brauchen MINTler, nein, sie sind in unserer gesamten Wirtschaft hochgefragte Arbeitskräfte und für die meisten von ihnen dürften gutbezahlte Arbeitsplätze in der Wirtschaft, wo sie ebenfalls händeringend gesucht werden, deutlich attraktiver sein als das Berufsdasein im Unterrichtsraum mit all seinen heutigen Problemen.
Guter Wille und „Ärmel hochkrempeln“ kann über vieles hinweghelfen, vor allem über unerwartete kurze Krisen. Wenn aber Missstände über viele Jahre leichtfertig fast herangezüchtet wurden und ein System sowieso schon „auf dem Zahnfleisch kriecht“, dann hilft irgendwann auch der allergrößte Wille nicht mehr, um Mängel auszugleichen. Erst recht dann nicht, wenn auch die gutwilligen Menschen, die das System ausmachen, bereits höchstpersönlich auch auf dem Zahnfleisch kriechen. Und das betrifft Lehrer heutzutage ähnlich wie auch Pflegekräfte – und übrigens noch viele weitere Berufsgruppen, auf deren Rücken Planlosigkeit und falsche Schwerpunktsetzungen ausgetragen werden. Abgesehen davon, dass dieses Sparen am falschen Ende Menschen mit Füßen tritt, rächt es sich auch früher oder später. Irgendwann ist jeweils Zahltag. Und die scheinen sich gerade zeitlich zu häufen.
In der WELT erschien zu Anfang dieser Woche ein sehr lesenswerter, sehr langer und mit etlichen Beispielen versehener Artikel des Titels „Deutschland funktioniert nicht mehr“. Leider ein in Titel wie Inhalt überaus überzeugender Text. Die Schulrealität ist ein besonders wichtiger Beleg dieser These. Mit einem irgendwie „Durchwurschteln“ ist es längst nicht mehr getan. Wir brauchen eine umfassende systemisch angelegte Stärkung im Berufsfeld der schulischen Bildung, die den Lehrerberuf attraktiver und erstrebenswerter macht, als er es heute ist. Das wird unsere kurzfristigen Probleme der Unterversorgung auch nicht lösen, hier ist das Kind buchstäblich bereits in den Brunnen gefallen. Aber es kann eine mittel- bis langfristige Umsteuerung einleiten, die absolut notwendig ist. Das setzt freilich politische Entscheidungsträger mit Plan und einer Strategie voraus, denen aufrichtig daran gelegen ist, nicht nur aktuelle Notnägel einzuschlagen, sondern die ein Bewusstsein dafür haben, dass die Bildungsversorgung der Zukunft von heutigen, langfristig tragfähigen Entscheidungen abhängt.

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